Suggestionen im wissenschaftlichen Diskurs

 

Christoph Kraiker

 

I

In dieser Abhandlung möchte ich folgende Thesen vertreten:

1. Die sog. moderne Wissenschaft hat sich mit dem Anspruch etabliert, die Lenkung individuellen und politischen Verhaltens dem Einfluss von Suggestionen zu entziehen und der Rechtfertigung durch eine objektive wissenschaftliche Beweistechnik zu unterwerfen.

2. Zum Zeitpunkt ihres Entstehens (ca. zwischen 1550 und 1650, repräsentiert durch Namen wie Galilei, Francis Bacon, Descartes) bedeutete die Überwindung klerikaler und adliger Herrschaftsansprüche die Möglichkeit einer Herrschaft durch die Menschen selbst. Die moderne Wissenschaft wurde so zu einer Vorbedingung für das Entstehen demokratischer Regierungen.

3. Dieses Programm ist gescheitert. In der Gegenwart macht auch die Wissenschaft ihren Einfluss suggestiv geltend, sie kann gar nicht anders, und damit ist sie zu einer potentiell größeren Gefahr geworden als jenes Lenkungssystem, das sie ersetzen sollte.

4. Die private Vernunft kann diesen Einfluss nicht argumentativ abwehren. Wenn sie nicht davor kapitulieren will, muss sie ihn politisch unterbinden.
 
 

II

Zunächst möchte ich Ihnen einige Bedingungen erfolgreicher Suggestionen vorstellen. Die Aufstellung ist entstanden aus dem Versuch, eigene Erfahrungen als Suggestionsopfer zu analysieren. Bewegt hat mich folgende Begebenheit, die schon einige Jahre zurück liegt:

An einem Wochenende entwickelte ich ein Symptom, das zwar schon früher gelegentlich aufgetaucht war, aber diesmal richtig schmerzte. Sicherheitshalber ging ich am Montagmorgen zu Arzt. Der vermittelte um 16.00 Uhr einen Termin beim Facharzt. Um 18.00 war ich in der Klinik, um 19.00 wurde ich operiert. Am nächsten Morgen sah sich der Chirurg sein Werk an und sagte zu mir: Na, das sieht ja ganz gut aus. Hoffentlich muss ich Sie nicht ein halbes Dutzend mal operieren wie einen anderen Patienten, der auch so ein Problem hat.
Die Folge dieser Bemerkung war, daß ich praktisch zwei Jahre lang in hypopanischer Hypochondrie lebte, ständig in Angst, daß es wieder los geht und ich erneut unter das Messer muss. Ich ließ mich schließlich nochmals von einer anderen Kapazität untersuchen, und dieser Arzt sagte, daß alles völlig in Ordnung sei und auch nie die Gefahr eines Rezidivs bestanden habe.
Ich fragte mich dann, wie es möglich war, daß ein einziges Satz von gerade mal zehn Sekunden Länge derartige psychische Auswirkungen haben konnte, zumal dies ja gar keine beabsichtige Suggestion war. Über die Jahre hinweg, auch im Zusammenhang mit meiner Arbeit in kognitiver Verhaltenstherapie, kam ich dann zu jener Aufstellung der Elemente erfolgreicher Suggestion, die ich Ihnen jetzt vorstellen möchte:
 

Wenn man den Sender, den Inhalt und den Empfänger der Suggestion unterscheidet, gelten folgende Punkte:
 

1. Der Inhalt der Suggestion muss die Aufmerksamkeit des Empfängers erregen. In meinem Fall gelang dies deshalb, weil sie für mich große Bedeutung besaß. Wenn es um Leben und Tod, das Schicksal der Erde und des Universums geht, dann hören eben die meisten aufmerksam zu. Andere Mittel, den Empfänger Aufmerksam zu machen, sind etwa ständige Wiederholungen wie bei der Fernsehwerbung oder das Induzieren einer hypnotischen Trance.

2. Der Sender der Suggestion wird als kompetent eingeschätzt in Bezug auf den Inhalt der Suggestion. Eine solche Kompetenz kann direkt offiziell bestätigt und dann demonstriert werden, etwa durch das Verleihen von Diplomen, Zertifikaten und Titeln, aber auch das gedruckte Wort gilt ceteris paribus mehr als das dahingesprochene, und die Zahnarztfrau besitzt mehr Kompetenz bei der Beurteilung von Zahnbürsten als der Klempner.

3. Der Empfänger der Suggestion besitzt, was den Inhalt der Suggestion angeht, keine oder unzureichende Wissenskompetenz.

4. Der Sender der Suggestion wirkt vertrauenswürdig, nicht im Sinne fachlicher Kompetenz (das hatten wir schon), sondern in dem Sinne, daß er selbst von dem überzeugt scheint, was er sagt. Eine Voraussetzung dafür ist, daß er den Eindruck vermeidet, den Empfänger der Suggestion in eigenem Interesse manipulieren zu wollen. Sollte dieser Eindruck entstehen, dann entsteht auch Reaktanz. Hier hat die Zahnarztfrau gewisse Schwierigkeiten (von Dr. Best ganz zu schweigen), und auch der Chirurg, der zu einer kostspieligen Operation rät, oder der Therapeut, der zu einer hochfrequenten, mehrjährigen Therapie rät. Aber jemand, der hofft, daß keine weiteren Operationen notwendig werden (um auf meinen Fall zurückzukommen), ist in dieser Beziehung über jeden Verdacht erhaben.

5. Optional, aber wenn vorhanden, dann oft außerordentlich wirkungsvoll: Die Suggestion übt moralischen Druck aus, in dem Sinne, daß jemand, der sie in Frage stellt, offensichtlich ein Schwein ist. Der Vertreter, der das zu erwartende Elend der Familie nach dem Hinscheiden des Ernährers drastisch beschreiben kann, hat es leichter beim Verkauf von Versicherungen. Diese Strategie findet man überall, im Wirtschaftsleben, der Politik, der Wissenschaft, im Kindergarten. Kompliziert wird die Sache bei zweiseitig aufgeladenen Problemen. Hier ist man immer ein Schwein, egal was man macht, mal in den Augen der einen Gruppe, mal in den Augen der anderen. Auf welcher Seite jemand steht, kann man oft an der verwendeten Terminologie erkennen, etwa:

Bewaffnete Intervention vs. friedensstiftende Maßnahmen
Abtreibung vs. Schwangerschaftsunterbrechung
gentechnisch manipuliert vs. gentechnisch verändert
Steuererhöhung vs. Solidaritätszuschlag

6. Schließlich eine definitorische Festlegung: Von Suggestion sollte man nur dann sprechen, wenn der Beweis fehlt. Wenn man beweisen kann, daß man etwas tun muss, oder daß etwas so ist, wie man sagt, dann ist es keine Suggestion. Gerade aus diesem Grund ist die Vorspiegelung eines (tatsächlich nicht vorhandenen oder nicht gültigen) Beweises ein wichtiges Element suggestiver Einflussnahme.
 

Fassen wir diese Elemente nochmals in einer Liste zusammen:

1. Die Suggestion erregt die Aufmerksamkeit des Empfängers.
2. Der Sender der Suggestion wird als kompetent eingeschätzt.
3. Der Empfänger der Suggestion besitzt keine ausreichende Wissenskompetenz was den Inhalt der Suggestion angeht.
4. Der Sender der Suggestion wirkt vertrauenswürdig.
5. Die Suggestion übt moralischen Druck aus.
6. Fehlender Beweis bezüglich des Inhaltes der Suggestion.
 

Die ersten vier Elemente ergänzen sich eher multiplikativ als additiv; wenn eines gegen Null geht, dann droht die ganze Suggestion zu scheitern. Das fünfte Element wirkt als Verstärker, das sechste grenzt die Suggestion ab von rationaler Argumentation.
 
 

III

Rationale Argumentation war nun das Ziel moderner (nachmittelalterlicher) Wissenschaft. Sie versuchte, eine allgemeine Methode zur Herstellung gültiger Beweise zu entwickeln, damit sich Überzeugungen und Handlungen von Menschen tatsächlich auf solche Beweise stützen können. Wichtig war dabei, daß diese Methode tatsächlich von allen Menschen (wenigstens mittlerer Intelligenz) nachvollziehbar war. Varianten dieses Programms finden Sie in den Schriften der Pioniere der Moderne wie Francis Bacon, Galileo Galilei oder René Descartes. Descartes zum Beispiel schreibt:

"Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen, die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erweckten in mir die Vorstellung, daß alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt, man verzichtet nur darauf, irgendetwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung, die zu Ableitung der einen aus den anderen notwendig ist, nichts so ferne liegen, daß man es nicht schließlich erreichte, und nichts so verborgen sein kann, daß man es nicht entdeckte".1

Die zugrunde liegende Idee könnte man das exoterische Prinzip nennen. Es ist die Forderung nach einem Weg (Methodos) der Wahrheitsfindung, der folgende Forderungen erfüllt:2

1. Er soll auf einer allgemein akzeptierbaren, weil für jeden evidenten und nachprüfbaren Wissensbasis beruhen.
2. Er soll sich einer Methode bedienen, mit der alle überhaupt lösbaren Probleme gelöst werden können, deren Prinzipien für jeden einsichtig sind, die von jedem angewandt werden kann, und deren Arbeitsweise von jedem nachvollziehbar und damit nachprüfbar ist.
3. Er soll sich einer Sprache bedienen, mit der sich alle Dinge vollständig, klar und unmissverständlich ausdrücken lassen, die von allen auf eindeutige Weise verstanden wird.
 

Dieser Weg führt nicht nur zum Erfolg, zur Wahrheit, sondern er tut dies auch auf demokratische Weise: jeder kann diesen Weg selbst gehen, jeder kann selbst feststellen, ob andere ihn richtig gegangen sind.

IV

Das exoterische Prinzip ist jedoch gescheitert. Effektiv ist die Wissenschaft (in einem gewissen Sinne mehr denn je), aber ihr demokratischer Charakter ist verschwunden. Dafür gibt es hauptsächlich drei Gründe:

Wesentliche Fragestellungen haben mit hochkomplexen und damit chaotischen Systemen zu tun, die nur anhand extrem vereinfachter Modellvorstellungen überhaupt untersucht werden können und selbst dann die Rechenzeit von Hochleistungscomputern Tage, Wochen oder auch Monate in Anspruch nehmen. . Die Adäquatheit des eingesetzten Programms und die Adäquatheit der eingegebenen Ausgangsdaten können nur noch von einer winzigen Anzahl von Menschen beurteilt werden - wenn überhaupt. Alle Probleme der Auswirkungen von Variablen in komplexer Wechselwirkung gehören dazu, seien es die Auswirkungen einer Langzeitinterventionen auf den Gesundheitszustand von Menschen, die Entwicklung des Klimas in Abhängigkeit von industriellen Faktoren, oder die Konsequenzen einer europäischen Währungsunion. Und selbst wenn eines der einander widersprechenden Untersuchungsergebnisse korrekt sein sollte, könnte dies kaum jemand erkennen - möglicherweise kann es niemand erkennen.
Darüber hinaus ist nicht nur die Methode der grundlegenden Wissenschaften fast allen Menschen unzugänglich, sondern auch der Inhalt ihrer Aussagen. Deren Verständnis setzt nicht nur spezielle Begabungen voraus, sondern auch jahre- und jahrzehntelanges Einarbeiten in die Materie. Die genetischen Steuerungsprozesse, die Quantenchromodynamik, die relativistische Gravitationstheorie, die Bedeutung des Einstein-Podolsky-Rosen Paradoxes (1935) oder das korrekte Verständnis der Schrödinger Gleichungen werden der überwiegenden Mehrzahl der Menschen Bücher mit sieben Siegeln sein, und zwar auf unaufhebbare Art und Weise.
Außerdem: fast alle bedeutsamen Probleme betreffen ganz unterschiedliche Wissensgebiete gleichzeitig, für die es als Ensemble überhaupt keine Experten mehr gibt. Die Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Atomkraftwerden erfordert wenigstens physikalische, technische, geologische, meteorologische, biologische, medizinische wirtschaftliche, politische und psychologische Expertise, die niemand gleichzeitig hat, so daß es zu dieser Frage auch keine Expertise geben kann.3

V

Der moderne Wissenschaftsbetrieb ist so esoterisch geworden wie ein mystischer Geheimbund, das exoterische Ideal ist damit untergegangen, nicht aber der Anspruch auf Führung der Menschheit. Seine Effizienz kann schließlich niemand bestreiten - Die Flugzeuge fliegen, und die Autos fahren, und der Fernseher tut auch, vom Internet ganz zu schweigen. Da aber in wesentlichen Bereichen wissenschaftliche Beweisführungen nicht vorhanden oder nicht vermittelbar sind, muss auf außerwissenschaftliche Mittel der Einflussnahme zurückgegriffen werden, unter anderem auf Suggestionen (ein anderes Mittel ist die politische Nötigung durch wirtschaftliche Macht und/oder Beherrschung des Gesetzgebungsapparates, aber darauf möchte ich jetzt nicht eingehen).

Lassen Sie mich ein paar Beispiele unterschiedlicher Tragweite nennen, und fangen wir einmal mit den kleinen Tricks an. Aus der Inferenzstatistik ist ihnen allen der Begriff eines signifikanten oder hochsignifikanten Ergebnisses vertraut. Hier wird man terminologisch über den Tisch gezogen, und zwar gleich doppelt: es gibt keine Inferenzstatistik, die Ergebnisse von Stichprobenerhebungen sagen nichts aus über die Wahrscheinlichkeit der untersuchten Hypothesen. "H0 wird auf dem 1% Niveau zurückgewiesen" sagt nicht, daß H0 mit p=0,99 richtig ist. Populationsparametern können (jedenfalls in den praktisch immer verwendeten Modellen von R.A. Fisher oder Neyman and Pearson) keine Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden: sie sind das was sie sind, sie haben eine definitive Größe. Besonders krass ist die Irreführung bei Aussagen über die Ergebnisse von Intervallschätzungen. "Der Durchschnitt liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% zwischen x und y" ist Unsinn, da der Durchschnitt einen festen Wert hat und entweder zwischen x und y liegt oder nicht. (Korrekt müsste die Aussage heißen: Wenn ich dieses Schätzverfahren anwende, liege ich in 95% aller Fälle richtig, in 5% liege ich falsch). Die Zielrichtung dieser terminologischen Irreführung ist der 2. Faktor, die Verstärkung der wahrgenommenen Kompetenz des Senders einer Suggestion.
Die Begriffe signifikant oder hochsignifikant sind auch irreführend. Vom Wortsinn her bedeuten sie "ein Zeichen setzend" im Sinne von wichtig, bedeutsam, aber, wie zwar wir, aber nicht die Wissenschaftsjournalisten wissen, kann ein statistisch hochsignifikantes Ergebnis praktisch völlig belanglos sein. Man müsste in solchen Zusammenhängen auch über die Effektstärke informiert werden, aber auch dieser Ausdruck suggeriert etwas, nämlich daß ein Effekt vorliegt, während es sich lediglich um ein normiertes Maß für eine Differenz handelt, was nichts darüber aussagt, ob diese Differenz wirklich ein Effekt von irgendetwas ist. Das Signifikanzgerede täuscht Relevanz vor (1. Faktor), der Begriff Effektstärke das Vorliegen eines Beweises, der aber allein dadurch nicht erbracht wird (6. Faktor).
Ganz amüsant ist die Verwendung des Wortes "Compliance". Die Förderung von Compliance ist ein großes Gebiet der Erforschung von Risikoverhalten. Compliance heiß auf deutsch "bedingungsloses und kritikloses Befolgen ärztlicher Anweisungen"; aber so darf man es natürlich nicht nennen. Indem man "Compliance" sagt, erweist man sich erstens als kompetent (weil man Englisch kann - 2. Faktor), und zweitens vermeidet man Reaktanz (4. Faktor), da es die wirklichen Intentionen verschleiert. Die Wutausbrüche der medizinischen Lobby bei Erscheinen des Buches "Bittere Pillen" sind nicht überraschend, der Patient soll gefälligst nur Zeitung lesen, aber dort liest er leider, daß einem Patienten an einer renommierten Klinik der falsche Unterschenkel amputiert wurde. So it goes (ich kann auch Englisch).

Auf der nächsten Ebene nun ein Beispiel für eine subtilere und auch gefährlichere Vernebelungstaktik. Hier geht es um die moderne Verwendung des Begriffes Information als wissenschaftlicher Fachausdruck (es gibt noch die Alltagsbedeutung und die Bedeutung in der mittelalterlichen Philosophie). Was man versucht uns weiszumachen ist etwa folgendes: Das Gehirn ist ein informationsverarbeitender Mechanismus, der Computer ist ein informationsverarbeitender Mechanismus, also ist das Gehirn ein Computer (natürlich kein oller sequentiell arbeitender sondern eine ganz moderne konnektionistische Maschine), was zum Beispiel die Konsequenz haben wird und teils schon hat, daß man überflüssige Gehirne als Ersatzteillager für Hochleistungsgehirne verwenden kann .4

Der Taschenspielertrick besteht hier darin, den informationstheoretischen Begriff der Information - wie er im Computerwesen gebraucht wird - zu identifizieren mit dem Alltagsbegriff der Information. Letzterer bedeutet, daß eine Person einer anderen etwas mitteilt, nämlich, daß ein bestimmter Sachverhalt besteht. Man kann den Trick etwa folgendermaßen durchziehen. Man überträgt gute Reproduktionen zweier Bilder durch Einscannen in eine binäre Datei. Nehmen wir z.B. "Weißes Quadrat auf weißem Feld" von Malewitsch5 und "Das jüngste Gericht" von Michelangelo. Man sagt, daß erste Bild enthalte weniger Information als das zweite. Das kann man demonstrieren: Wenn man auf beide Dateien einen Kompressionsalgorithmus anwendet, stellt sich heraus, daß dadurch die erste viel kleiner wird als die zweite. Sagen wir mal, in Einheiten der Informationsmenge gemessen enthalte Michelangelos Gemälde zehn mal so viel Bits wie das von Malewitsch. So weit so gut. Das liegt aber nicht daran, daß Michelangelo eine gewaltige Geschichte erzählt und Malewitsch eigentlich nur wenig sagt. Im Sinne der Informationstheorie hätte den höchsten Informationsgehalt nämlich ein Bild, das lediglich aus Zufallspunkten besteht, so etwa wie ein flimmernde Fernsehröhre nach Programmschluss, aber als Mitteilung betrachtet hat es den geringsten, nämlich gar keinen. "Informationsverarbeitung" klingt so wie "Holzverarbeitung", aber während Holz eine natürliche Substanz ist, ist Information ein konventioneller Begriff, Teil einer willkürlich festgelegten Spielregel, und wo es diese Spielregeln als geistiges Produkt nicht gibt, gibt es auch keine Information, sondern einfach Physik und Chemie wie auch sonst in der Welt. Der Computer verarbeitet keine Information, sondern der Mensch tut es, gelegentlich mit Hilfe eines Computers. Das ist nicht dasselbe, aber um Zugriffe auf das menschliche Gehirn zu rechtfertigen, wird man sagen (und sagt es schon), daß da kein prinzipieller Unterschied bestehe.
Diese Art von suggestiver Strategie hat zwei Richtungen: Erstens wird der Eindruck eigener Kompetenz verstärkt, indem man "wissenschaftliche" Aussagen macht und dafür "Beweise" vorlegt, andererseits wird der Empfänger im Zustande der Ignoranz gehalten, weil die Behauptungen irreführend sind und von den vorgelegten Beweise nicht gestützt werden.

Die weitaus größte suggestive Kraft aber geht von den Begriffen Wissenschaft und wissenschaftlich selbst aus, vergleichbar nur noch mit dem längstvergangenen gottgewollt6. Wir erleben hier einen faszinierenden Vorgang der Entwirklichung der Wirklichkeit. So geht’s:  Es gibt wissenschaftliche Tatsachen. Was keine wissenschaftliche Tatsache ist, ist unwissenschaftlich, also gar keine Tatsache, also nicht existierend. Was eine wissenschaftliche Tatsache ist, entdeckt man durch Forschung. Was man direkt sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen kann wird, nicht durch Forschung entdeckt, ist also keine wissenschaftliche Tatsache, also nicht wirklich. Schmerz (den man wahrnimmt) ist in Wirklichkeit ein Gehirnzustand (den man nicht wahrnimmt), das Streichquartett ein neuronales Erregungsmuster, ein Lächeln unwichtig (außer es ist Teil einer statistisch erfassbaren Population von Lächlern), der Quantensprung ist wissenschaftlich erfassbar, die Beobachtung desselben nicht7. Generell gilt: Real sind die (unsichtbaren) Elementarteilchen und die sie regierenden (unsichtbaren) Gesetze, der Pudding im Kühlschrank und das Zahnweh sind nicht real. Und auch für Sigmund Freud war das Unbewusste das Wirkliche, das Bewusstsein und sein Inhalt unwichtig - da kann die Phänomenologie nur noch ins Gras beißen.

Neben der ontologischen Denunziation dessen, was für den Menschen unmittelbar von Interesse ist, liefert die Wissenschaftsideologie auch noch die Grundlagen für den expertokratischen Herrschaftsanspruch, nämlich die Rechtfertigung dessen, was man tut und von anderen fordert, durch das, was wissenschaftlich bewiesen sei. Was wissenschaftlich bewiesen ist, können nur die Experten und Expertinnen beurteilen. Das expertokratische Prinzip ersetzt das exoterische, denn der Gang und die Gültigkeit des wissenschaftlichen Beweises sind von der privaten Vernunft (Rehfus) oder dem gesunden Menschenverstand (Bahrdt) nicht mehr nachvollziehbar.
Betrachten wir einmal das bekannte Buch von Klaus Grawe und seinen Mitarbeiterinnen8, in dem aufgrund von Metaanalysen festgestellt wird, welche Therapieformen effektiv sind und welche nicht. Schon im Titel finden wir geballte suggestive Energie "Psychotherapie im Wandel" heißt: Dies ist ein epochemachendes Werk, eine neue Zeit bricht an und wir sind ihre Propheten. Der Untertitel "Von der Konfession zur Profession" ist auch nicht schlecht. Die Konfession wird in die Lohnsteuerkarte eingetragen und bedeutet auch Beichte, hat also etwas mit Religion zu tun, also mit Aberglauben. Profession hat mit Professor zu tun, dem vorläufigen Höhepunkt der Evolution, und mit professionell, also schnell, gekonnt und für Geld (muss nicht überall im voraus bezahlt werden). Na ja. Praktisch alle dort besprochenen Therapieformen sind schon Jahrzehnte alt, und Konfession und Profession bedeuten im Lateinischen genau dasselbe (nämlich Bekenntnis). So it goes.
An dem Buch gearbeitet haben etwa ein Dutzend Leute etwa ein Dutzend Jahre mit einem Etat von ein paar Millionen, sich stützend auf hunderte von anderen Forschungsberichten von hunderten von anderen Leuten mit einem Etat von noch mehr Millionen. Um dies wissenschaftlich zu kritisieren, müsste die Psychotherapeutin in privater Praxis den ganzen Prozess wiederholen. Das aber kann sie - aus verschiedenen Gründen - nicht.
Was also tun, wenn man weiterhin, sagen wir, Logotherapie betreiben möchte, eine Therapieform, der von Grawe et al. selbst die Minimalkriterien der Wissenschaftlichkeit abgesprochen werden?9 Oder verallgemeinert: Was kann man tun, wenn man sich einem expertokratischen Argument nicht beugen will? Nahe liegend wäre das Erstellen einer Gegenexpertise. Das ist aber nur einem winzigen Kreis von Leuten möglich und produziert nur ein Gegengutachten zu einem schon vorhandenen Gutachten (siehe die Diskussion um die Auswirkungen der Eurowährung oder die Freigabe der Laden-Öffnungszeiten). Die private Vernunft kann aber weder dem einen noch dem anderen gerecht werden. Eine weitere Möglichkeit ist, die moralische Durchschlagskraft der eigenen Position zu verstärken, also gegen die Experten nicht wissenschaftlich, sondern moralisch zu argumentieren10. Die Kampagnen gegen Atomkraftwerke, die Versenkung von Ölplattformen, die Aufstellung von Mittelstreckenraketen, gegen das Kruzifixurteil des Verfassungsgerichtes, usw. sind moralische Kampagnen. Das kann in der Tat sehr effektiv sein, wie wir gesehen haben, wird allein nicht ausreichen. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten bleibt es fragwürdig, und moralisch kann auch der Experte argumentieren: Die Atomkraftwerke verringern den CO2 Gehalt der Atmosphäre, die Produktion von Autos sichert den Wohlstand und garantiert Mobilität, die Verpflanzung fötalen Gehirngewebes hilft Parkinson-Patienten, das Kruzifixurteil bedeutet Minderheitenschutz in einer pluralistischen Gesellschaft (wir sind ja schließlich nicht mehr im Mittelalter), und gentechnisch veränderte Nahrungsmittel lindern den Hunger in der 3. Welt.

Ich befürchte, daß die private Vernunft sich gegen die Expertokratie damit auf Dauer nicht wehren kann, sondern daß eine völlig andere Strategie notwendig ist. Man muss sich fragen, warum sich die private Vernunft überhaupt gegen die Expertokratie wehren soll. Das ist die Antwort: Ein expertokratisches System ist, wie jedes Machtsystem, zwangsläufig korrupt. Unbeschadet der moralischen Integrität vieler Experten hat das System als solches nicht die Interessen der anderen im Sinn, sondern vorwiegend das eigene11 (deshalb sind auch die eigenen Rechtsanwälte und Steuerberater so gefährlich). Wenn man nur der privatenVernunft vertraut, wird das oft in die Hose gehen, aber wenn man sich völlig den Experten überlässt, hat man nicht die geringste Chance. Man muss sich der Experten bedienen, beherrschen lassen darf man sich von ihnen nicht. Wenn also jemand sagt: "Mach das und das, denn ich bin der Experte und kenne mich aus", und wenn man gute Gründe hat, das und das nicht zu machen, dann erwidert man am besten: "Sicher bist du der Experte, und genau deshalb traue ich dir nicht über den Weg".

 


 
 

Fußnoten:
 

1 Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637). Zitiert nach R.Descartes, Philosophische Schriften, Hamburg: Felix Meiner 1996, S. 33
2 cf . Wulff D. Rehfus (1990) Die Vernunft frisst ihre Kinder. Hamburg: Hoffman und Campe
3 cf. Hans Paul Bahrdt (1988). Der Staatsbürger und seine Experten. In: Der Aquädukt. München: C.H. Beck, S. 555-565.
4 cf. Theodore Roszak (1994). The cult of information (2nd ed.), Berkeley: University of California Press.
5 1918, New York, Museum of Modern Art
6 Das "deus lo volt" des elften Jahrhunderts entspricht dem "es ist wissenschaftlich bewiesen" des zwanzigsten. Beide sind einfach unwiderstehlich.
7 Um sich das zu vergegenwärtigen siehe z.B. Pfarr, J. (1980). Zur wissenschaftstheoretischen Deutung der "Many-Worlds Interpretation" der Quantentheorie. In: Mittelstaedt, P. & Pfarr, J. Grundlagen der Quantentheorie. Mannheim: Bibliogr.Inst., S. 111-126.
8 Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel - Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe.
9 Grawe et al. a.a.O. S. 735. Die schwarze Liste enthält noch etwa dreißig andere Therapieformen. Allerdings ist den Autorinnen ein kleiner logischer faux pas unterlaufen: ein fehlender Beweis der Effektivität ist kein Beweis fehlender Effektivität. Jede Therapie hat mal unbewiesen angefangen.
10 cf. Rehfus, W.D., a.a.O. S.96f
11 cf. Bahrdt, P. a.a.O. S. 559f.
 
 

Vortrag gehalten auf dem 2. Europäischen Kongress für Hypnose und Psychotherapie nach Milton. H. Erickson in München (Oktober 1995).