Vom Schrecken der Erleuchtung
Christoph Kraiker
The dove
descending breaks the air
With flames of incandescent terror
Of which the tongues declare
The one discharge from sin and error.
T.S.Eliot
Die Geschichte der Erleuchtung am fünfzigsten Tag (Pfingsten)
ist von mäßigem Interesse. Während die Erzählungen von der Geburt und vom Tod
des Jesus von Nazareth das Herz auch der Ungläubigen berühren, berührt die
Erzählung von der Herabkunft des heiligen Geistes (Apostelgeschichte, Kap.2)
außer T.S. Eliot kaum jemanden. Das Brausen wie von einem gewaltigen Wind und
die Manifestation der Flammenzungen scheinen eher der Ghost-Busters zu
bedürfen als der Deutung. Einige der Augen- bzw. Ohrenzeugen sind hingerissen
von der Tatsache, daß sie die Geist-erfüllten in ihrer eigenen Sprache reden
hören, andere meinen, sie hätten es mit betrunkenen Schwatzköpfen zu tun. Der
Erzähler selbst scheint keine klaren Vorstellungen von den damaligen
Ereignissen zu haben, er scheint es auch nicht für sinnvoll zu halten, den
Inhalt dieser Reden wiederzugeben, außer der von Petrus. Der weist zunächst den
Trunkenheitsverdacht mit Hinweis auf die frühe Stunde weit von sich (was nicht
jeden überzeugt haben wird) und erklärt das Geschehen dann als Erfüllung einer
Prophezeiung von Joel: »Und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und
eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben...«
aber auf diese Weissagungen, Gesichte und Träume scheint es nicht weiter anzukommen,
denn von ihnen ist dann nicht mehr die Rede.
Kein Wunder, daß beim Abschießen von Feiertagen der
Pfingstmontag als nächster ins Visier gerät. Was dem Arbeitnehmer nichts bedeutet,
kann man dem Arbeitgeber opfern. Die zwiespältige Natur der Erleuchtung und
ihre zwiespältige Aufnahme durch die Unerleuchteten zeigen sich auch heute im
Nicht-Verhältnis zu Pfingsten: ein Fest ohne Geschenke und ohne Identifikationsfigur.
Und doch wurde am fünfzigsten Tag jene Bewegung in Gang gesetzt, die die Welt
veränderte und immer noch verändert - man darf den mitteleuropäischen Kirchensteuerstaat
nicht für das letzte Wort der Geschichte halten. Es ist aber nicht nur ein
Beginn, sondern auch ein Abschluß, das letzte große Fest des Kirchenjahres. Es
ist eine der letzten Erzählungen in einer Reihe von Erzählungen, die von der Erlösung,
also vom Schicksal der Menschheit handeln. Auf das Wort „Erlösung“ (wie auf
„Sünde“ oder „Tugend“) reagiert der moderne Geschmack leicht angewidert. Und
trotzdem wollen wir fragen, von was für einer Art Erlösung dort eigentlich
erzählt wird, denn der Blick in die Vergangenheit und die Nachrichtensendungen
lassen jene vorgebliche Erlösung nicht gerade ins Auge springen.
Der Bericht von der
Erleuchtung durch den Geist Gottes als Teil der Erlösung ist erst dann zu
verstehen, wenn man zurückgeht auf die erste Geschichte jener Kette von
Geschichten, zu denen unser Bericht gehört. Jene erste Geschichte, das dritte
Kapitel des Buches Genesis (Am Anfang),
ist auch die Geschichte einer Erleuchtung (das heißt eines „besser sehen
könnens“), aber seltsamerweise wird sie so nicht genannt; genannt wird sie
vielmehr die Geschichte vom Sündenfall. Diese Benennung entstand durch
Wahrnehmungsstörungen einer bestimmten Art
- eine Behauptung, die einige Erläuterungen vertragen kann. Deshalb
sollten wir die Geschichte vom Sündenfall als Geschichte der Erleuchtung lesen,
eine Erleuchtung mit nachfolgendem Desaster allerdings. Es wird sich lohnen,
denn es sind ja die Folgen jenes Desasters, von denen wir erlöst werden
mussten, und mit einem besseren Verständnis der Natur jener Katastrophe (d.h.
jener „Umwendung“) gewinnen wir ein besseres Verständnis von der Natur der
Erlösung und von Pfingsten - der
abschließenden Erleuchtung.
Man kann vom Lesen dieser
Geschichte auch auf profane Weise profitieren. Sie ist, jedenfalls für uns,
eine der einflußreichsten Geschichten überhaupt. Wir alle tragen eine
Vorstellung von ihr herum, und indem wir erfahren, wie unsere Vorstellung von
der wirklichen Geschichte abweicht, können wir einiges über uns lernen -
natürlich auch über die, die sie für uns übersetzt und erzählt haben. Und erzählt
wird ständig von ihr; sie ist schließlich eine unerschöpflich sprudelnde Quelle
zahlloser Bilder und Gleichnisse und Werbespots und sexueller Anzüglichkeiten.
Noch eine Erläuterung, bevor
es losgeht. Was folgt, sind im Grunde therapeutische Betrachtungen, nicht Abhandlungen
eines Bibelwissenschaftlers. Wie ist das zu rechtfertigen? Nun, erstens darf
man den Experten nicht trauen. Nicht nur, weil auch Experten sich irren und
sich widersprechen, sondern auch deshalb, weil Experten ihre eigenen
Interessen haben, die den Blick trüben können und oft genug trüben. Die
Expertenurteile über die Vorkommnisse im später so genannten Paradies zeigen
dies überdeutlich. Zweitens versucht man als Psychotherapeut die Dinge so zu
sehen wie sie sind; das gelingt nie perfekt, aber doch einigermaßen. Das gilt
auch für die Wahrnehmung von Texten, und es ist schon viel gewonnen, wenn wir
merken, was in unserem Text eigentlich steht und was nicht drin steht. Denn
unser Text ist wie eine Projektionsfläche - was dort alles hinein- und herausgelesen
wurde, hat oft den Charakter einer wahnhaften Störung, und das bei den
klügsten und ehrlichsten Leuten.
Nun zur Geschichte (Genesis
3). Sie beginnt mit der Schlange, aber zuvor brauchen wir ein paar Details aus
der Vorgeschichte. Gott schuf Adam aus Adama (den Erdling aus Erde), und machte
für ihn einen Garten in Eden. Dieser Garten wird heutzutage Paradies genannt,
aber dieses Wort kommt in unserem Text überhaupt nicht vor - genausowenig wie
das Wort Sünde. Der Garten ist fruchtbar, aber eben ein Garten, kein Himmel auf
Erden; der Erzähler versucht sogar, ihn auf dieser Erde geographisch so genau
wie möglich zu lokalisieren. Wir können ihn uns vielleicht vorstellen wie die
Insel Reichenau in früheren Zeiten. Gott pflanzt in die Mitte des Gartens zwei Bäume, den Baum des Lebens und den
Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (es sind nicht die einzigen Bäume, aber
die für die Geschichte wichtigen). Gott legt den Erdling in den Garten und
sagt zu ihm (in der Übersetzung von Buber und Rosenzweig, die hier immer verwendet
wird, wenn nicht anders angegeben):
Von
allen Bäumen des Gartens magst essen du, essen,
aber
vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse,
von
dem sollst du nicht essen,
denn
am Tag, da du von ihm issest, mußt sterben du, sterben.
Gott macht dann die Frau auf
die bekannte Weise. Der Erdling nennt die Frau Ischa (ein etwas gewaltsames
Wortspiel, was auch in Luthers Übersetzung von Ischa als "Männin" zum
Ausdruck kommt - derartige klangassoziative Wortwahl findet sich an mehren
Stellen unseres Textes, z.B. bei Adam - Adama). Ischa erhält keine Anweisungen
bezüglich des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse, jedenfalls wird nichts
davon berichtet. Die beiden waren nackt (arom) und sie schämten sich nicht.
Nun geht die Geschichte
wirklich los:
Die
Schlange war listiger als alles Lebendige des Feldes, das Er, Gott, gemacht hatte.
„Listig“ ist hier die
Übersetzung von „arum“. Luther übersetzt auch so, aber andere übersetzen mit
„klug“, die King James Bibel mit „subtil“, die Thora der American Jewish
Publication Society mit „shrewd“, was so viel wie „schlau“ heißt. Es ist klar,
worum es geht: Es geht um die Interpretation dessen, was folgt. Ist die
Schlange listig oder gar hinterhältig, dann sind ihre Werke von Übel. Ist sie
aber klug oder gar weise, dann sind ihre Werke gut oder wenigstens gut
gemeint. Jedenfalls ist arum im Sinne
von "intelligent, aber mit bösen Absichten" eine mögliche, aber keine
zwingende Übersetzung. Man kann den Text auch übersetzen wie O.H. Steck (1982,
S.88):
Die
Schlange aber war klüger als alle Tiere des Feldes, die Jahwe Gott gemacht
hatte.
Wir wollen das nicht
stimmungsmäßig präjudizieren; man kann es so oder so sehen, und letztlich kommt
es auf die Intentionen der Schlange nicht an. Aber gegen diejenigen, die in
der Schlange die Verkörperung einer kosmisch bösen Macht sehen, müssen wir
deutlich sagen, daß im Text davon nicht die Rede ist. Die Schlange wird
ausdrücklich ein von Gott geschaffenes Tier oder Lebewesen des Feldes genannt,
und auch in den beiden vorhergehenden Versionen des Schöpfungsberichtes ist von
der Erschaffung eines Satans oder Teufels nicht die Rede - übrigens auch nicht
von Engeln. Wenn der Erzähler die Schlange hätte verteufeln wollen, hätte er
sicher vom Teufel gesprochen, aber das ist nicht der Fall: der Garten Eden
liegt in einer ganz irdischen Welt, mit Gott und mindestens einem sprechenden
Tier, gewiss, aber ohne jene Heerschar von guten oder bösen Geistern, die
später in der Vorstellung der Menschen auftauchen. Außerdem ist ein paar
Zeilen weiter von der Nachkommenschaft (dem Samen) der Schlange die Rede, und
der Teufel jedenfalls hat keine
solchen.
Weiter:
Sie
sprach zum Weib:
Ob
schon Gott sprach: Eßt nicht von allen Bäumen des Gartens ...!
Das
Weib sprach zur Schlange:
Von
der Frucht der Bäume im Garten mögen wir essen, aber von der Frucht des Baumes,
der mitten im Garten ist,
hat
Gott gesprochen:
Eßt
nicht davon und rührt nicht daran, sonst müßt ihr sterben.
Die
Schlange sprach zum Weib:
Sterben,
sterben werdet ihr nicht,
sondern
Gott ists bekannt,
daß am
Tage, da ihr davon esset, eure Augen sich klären
und
ihr werdet wie Gott, erkennend Gut und Böse.
Wer die Schlange mit dem
Teufel, dem Meister der Lüge identifiziert, unterstellt ihr auch, daß sie gelogen
hat. Aber sie hat nicht gelogen. Zunächst hat sie eine Frage gestellt, und
fragen wird man ja noch dürfen. Und wie sich dann zeigte, sind Adam und Ischa
tatsächlich nicht an dem Tag gestorben, an dem sie vom Baum aßen, und ihre
Augen klärten sich tatsächlich, und sie wurden wie Gott, erkennend Gut und
Böse, und so sagt es Gott ja auch ein wenig später. Die Schlange selbst rät
nichts und fordert zu nichts auf. Sie konstatiert nur.
Das
Weib sah,
daß
der Baum gut war zum Essen
und
daß er eine Wollust den Augen war
und
anreizend der Baum, zu begreifen.
Sie
nahm von seiner Frucht und aß
und
gab auch ihrem Manne bei ihr, und er aß.
Die
Augen klärten sich ihnen beiden,
und
sie erkannten, -
daß
sie nackt waren.
Sie
flochten Feigenlaub und machten sich Schurze.
So ist es: ihre Augen klärten
sich. Ohne dem Text Gewalt anzutun, kann man das wohl als eine Metapher
ansehen. Sie werden vorher kaum an einer Linsentrübung der Augen gelitten
haben. Und natürlich haben sie sich vorher nackt gesehen, da sie ja nackt
waren, aber daß die Nacktheit etwas besonderes ist, das „sehen“ sie erst nach
der Augenklärung, so daß diese verstanden werden muß nicht als Gewinn einer
besseren Optik, sondern einer neuen Sichtweise. Sie sehen zwar dasselbe wie
vorher, aber sie sehen es als etwas anderes, sie haben ein neues, ein anderes
Bewußtsein davon, und sie reagieren anders darauf als vorher. Sie machen sich
Schurze aus Feigenlaub. Weil sie sich schämten? Mag sein, zumal früher ausrdücklich
hervorgehoben wurde, daß sie nackt waren und sich nicht schämten. Wenn es so ist, was ist der Gegenstand ihrer Scham?
Nacktsein heißt ja nicht nur Entblößung der Geschlechtsmerkmale, sondern es
ist auch eine Metapher für Schwäche, denn Scham entsteht nicht nur aus der Erkenntnis,
das man etwas Übles getan hat, sondern auch aus der Wahrnehmung eigener Hilflosigkeit
gegenüber dem Unkontrollierbaren. Leute schämen sich, wenn sie schwitzend und
zittern eine Rede halten müssen, wenn sie sich im Restaurant plötzlich
übergeben, wenn ihnen in der U-Bahn schlecht wird. Sich etwas anziehen, und
seien es Schurze aus Feigenblätter, ist nicht einfach ein Akt der
Schamhaftigkeit, sondern ein Gewinn an Kontrolle, oder zumindest der Versuch
dazu. Schließlich ist das Opfer nackt, der Folterer ist angezogen.
Sie
hörten Seinen Schall, Gottes, der sich beim Tageswind im Garten erging.
Es
versteckte sich der Mensch und sein Weib vor Seinem, Gottes Antlitz.
Er,
Gott, rief den Menschen an und sprach zu ihm:
Wo
bist du?
Er
sprach:
Deinen
Schall habe ich im Garten gehört und fürchtete mich, weil ich nackt bin,
und
ich versteckte mich.
Er
sprach: Wer hat dir gemeldet, daß du nackt bist?
hast
du vom Baum, von dem nicht zu essen ich dir gebot, gegessen?
Der
Mensch sprach:
Das
Weib, daß du mir beigegeben hast, sie gab mir von dem Baum, und ich aß.
Er,
Gott, sprach zum Weib:
Was
hast du da getan!
Das
Weib sprach:
Die
Schlange verlockte mich, und ich aß.
Die Klärung der Augen, das
neuen Bewußtsein, bringt noch andere neue Reaktionen hervor: Furcht zum Beispiel.
Furcht vor Gott. Aber es ist nicht klar, warum sie sich vor Gott fürchten. Daß
sie sich wegen ihrer Nacktheit vor ihm schämen, steht nicht da; daß sie sich
wegen der erwarteten Strafe vor Gott fürchten, steht auch nicht da.
Offensichtlich ist ihnen mit der Erkenntnis von Gut und Böse auch die Erkenntnis
ihrer eigenen Ohnmacht zugewachsen, und das Verstecken vor Gott ist die Flucht
der Ohnmacht vor der Macht. Ihre Ohnmacht wird ihnen später ja auch von Gott
überdeutlich unter die Nase gerieben, aber Schamlosigkeit wirft er ihnen nicht
vor. Und aus Furcht entstehen faule Ausreden und Schuldzuweisungen. Der Hinweis Adams, daß die Frau ihm die
Frucht gab, und Gott ihm die Frau, kann als Vorwurf gegen Gott verstanden
werden. Schließlich hätte der ihm ja keine Frau geben müssen, oder jedenfalls
keine von dieser Sorte. Die Frau schließlich beschuldigt die Schlange: „Die
Schlange verlockte mich“. Andere übersetzen: die Schlange „betrog“ mich, oder
„täuschte“ mich, oder „verführte“ mich. Aber von Täuschung oder Betrug kann
nicht die Rede sein. Juristisch gesehen hat die Schlange eine weiße Weste, wie
schon festgestellt wurde. Verlockung und Verführung - denkbar, aber wenn es
eine Täuschung gab, dann war es Selbsttäuschung. Die Furcht, vielleicht die
Scham, die faulen Ausreden, die falschen Beschuldigungen, ergeben sich gewissermaßen
„von selbst“ aus dem neuen Bewußtsein nach dem Genuß der Frucht. Gott bewirkt
das jedoch nicht unmittelbar, sondern indirekt, denn er hat schließlich den
Baum mit seinen Früchten und ihren potentiellen Auswirkungen selbst geschaffen.
Aber nun scheint er noch einiges draufzusetzen:
Er,
Gott, sprach zur Schlange:
Weil
du das getan hast, sei verflucht vor allem Getier und vor allem Lebendigen des
Feldes,
auf
deinem Bauch sollst du gehen und Staub sollst du fressen alle Tage deines Lebens,
Feindschaft
stelle ich zwischen dich und das Weib, zwischen deinem Samen und ihren Samen,
er stößt dich auf das Haupt, du stößest ihm in die Ferse.
Zum
Weibe sprach er:
Mehren,
mehren will ich deine Beschwernis, deine Schwangerschaft,
in
Beschwer sollst du Kinder gebären.
Nach
deinem Mann sei deine Begier, er aber walte dir ob.
Zu
Adam sprach er:
Weil
du auf die Stimme deines Weibes gehört hast
und
von dem Baum gegessen hast, den ich dir verbot, sprechend: Iß nicht davon!,
sei
verflucht der Acker um deinetwillen, in Beschwer sollst du von ihm essen alle
Tage deines Lebens.
Dorn
und Stechstrauch läßt er dir schießen, so iß denn das Kraut des Feldes!
Im
Schweiß deines Antlitzes magst du Brot essen,
bis du
zum Acker kehrst,
denn
aus ihm bist du genommen.
Denn
Staub bist du und zum Staub wirst du kehren.
Wie man das liest, entscheidet
darüber, wie man das ganze liest - aber das gilt auch umgekehrt.
Die Standardlesart ist diese:
Gott hat ein Verbot erteilt, die Menschen haben dieses Verbot übertreten.
Dafür belegt Gott die Menschen (und die Schlange bzw. den Teufel) mit den
gerade geschilderten Strafen. In dieser Interpretation wird der Ungehorsam als
Ausdruck von Hochmut gesehen, als „sein wollen wie Gott“, und die Strafe
letztlich als durch Gottes Willen und Macht herbeigeführten Verlust der ewigen
Seligkeit (und schließlich sogar als Verurteilung zur ewigen Verdammnis).
Aber offensichtlich liebt Gott
die Menschen. Er läßt sie nicht sterben am Tag, da sie vom Baum der Erkenntnis
von Gut und Böse aßen, obwohl er das vorher angekündigt hatte.
Und so sein zu wollen wie
Gott, ist ja keine Schande, sondern eine Tugend. Schließlich hat Gott den
Menschen nach seinem Bild, dem Bild Gottes gemacht, und auch im Neuen Testament
hören wir: "Darum sollt ihr vollkommen sein, wie auch euer Vater im Himmel
vollkommen ist" (Mt.5,48).
Der
Mensch rief den Namen seines Weibes: Chawwa, Leben!
Denn
sie wurde Mutter alles Lebendigen.
Nur am Rande interessant ist,
daß erst hier der Name Eva (westliche Schreibweise von Chawwa - selbst wieder
ein Wortspiel) auftaucht. Wirklich von Bedeutung ist, daß Chawwa zum Ursprung
des gesamten künftigen menschlichen Lebens wird.
Er,
Gott, machte Adam und seinem Weibe Röcke aus Fell und kleidete sie.
Gott verschont nicht nur das
Leben der Menschen, er verhält sich auch fürsorglich ihnen gegenüber. Ergibt
das einen Sinn? Die Menschen erst einem rauhen Klima aussetzen und ihnen dann
Röcke aus Fell zu machen?
Der Schlüssel zu Auflösung
liegt im Ende der Geschichte, sozusagen im finale furioso. Und dieses Ende
bereitet der traditionellen Auslegung der Geschichte nicht nur Schwierigkeiten
- sie führt sie vielmehr ad absurdum.
Er,
Gott, sprach:
Da,
der
Mensch ist geworden wie unser einer im Erkennen von Gut und Böse.
Und
nun
könnte
er gar seine Hand ausschicken
und
auch vom Baum des Lebens nehmen und essen
und in
Weltzeit leben!
So
schickte Er, Gott, ihn aus dem Garten von Eden, den Acker zu bedienen, daraus
er genommen war.
Er
vertrieb den Menschen
und
ließ vor dem Garten von Eden ostwärts die Cheruben wohnen
und
das Lodern des kreisenden Schwerts,
den
Weg zum Baum des Lebens zu hüten.
Das fängt schon damit an, daß Gott bestätigt, der Mensch sei
in der Tat geworden wie er selbst im Erkennen von Gut und Böse. Diese Aussage
ist für die Standardlesart unerträglich, und die krampfhafte Ausflucht besteht
meist darin, Gott „bittere Ironie“ zu unterstellen. Dazu ist schlicht zu sagen,
daß im Buch Genesis keinerlei Ironie vorkommt: diese Geisteshaltung existiert
dort einfach nicht. Gott ist nicht ironisch. Außerdem wissen wir doch schon,
daß dem Menschen tatsächlich die Augen geklärt wurden, und Gott sagt dies
einfach nochmals in anderen Worten.
Ferner: wenn Gott die Menschen
für ihren Ungehorsam bestraft hätte, dann hätte er auch wegen ihres Ungehorsames
aus dem Garten Eden vertrieben. Aber die Vertreibung ist keine Strafe,
sondern eine präventive Maßnahme: Gott will nicht, daß die Menschen vom
Baum des Lebens essen und „in Weltzeit leben“ - das heißt „ewig leben“, wie
fast alle anderen übersetzen. Das zeigt übrigens auch, daß Adam und Ischa,
seine Frau, nicht schon im Garten Eden unsterblich waren, und ihnen diese
Unsterblichkeit erst weggenommen wurde. Gott verhindert, daß sie unsterblich werden, und wir können uns fragen: warum
eigentlich? Wäre doch schön gewesen!
Also nochmals der Versuch, die
Geschichte zu verstehen. Neben der Prämisse, daß Gott die Menschen liebt und
nicht hasst, müssen wir uns eine weitere theologisch unumstrittene Tatsache vor
Augen halten, nämlich daß Gott das vollkommene Wesen ist. Das heißt, er kann
durch andere weder frustriert, gedemütigt, gekränkt, beschädigt oder sonstwie
behindert werden, und er bedarf auch nicht der Unterstützung oder der
Fürsorge. Die Güte des Menschen nützt dem Menschen selbst, aber seine Bosheit
schadet nicht Gott. Und das widerspricht der absurden Vorstellung, daß Gott
Gehorsam an sich als eine Tugend ansieht, und Ungehorsam an sich bestraft.
Denn nur unvollkommene Wesen brauchen Untergebene, und nur Leute mit gefährdetem
Selbstwertgefühl können durch Ungehorsam gedemütigt werden. Befehlsverweigerung
ist schlimm für den, der vom Befehlsempfänger etwas braucht, aber Gott braucht
nichts. Wer Gehorsam braucht oder fordert, hat es nötig, aber Gott hat es nicht
nötig. Wer Gott eine derartige Gehorsamsgier unterstellt, versucht damit nur
seine eigene Befehlsgier theologisch zu rechtfertigen. Gott sagt dem Menschen,
er solle nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen, so wie ein Vater
seinem Kind sagt, es solle sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen: nicht,
weil er den Gehorsam braucht oder weil er Gehorsam testen will, sondern um
Schaden von ihm abzuwenden. Und welchen Schaden wollte Gott von Adam und Ischa
abwenden? Offensichtlich den, den sie erlitten haben, nämlich ein Ausmaß von
Erkenntnisfähigkeit, das ihnen die eigene Ohnmacht, den Schmerz, den Tod als
sichere und unabwendbare Realität vor Augen führt. Und dieses Desaster der
menschlichen Entwicklungsgeschichte wiederholt sich in jedem Einzelfall. Die
Todgeweihten waren alle einmal ahnunglose Babies, und die Katzenbabies bleiben
auch ahnungslos, wenn sie groß geworden sind, aber wir nicht. Das Schlimmste
aber ist, daß von nun an mit solchen Augen der Anblick Gottes unerträglich
wird, so unerträglich, daß Gott sich den Menschen nur in Zeichen zeigen kann -
und selbst die flößen Entsetzen ein, und auch die Boten Gottes müssen als
erstes sagen „Fürchtet Euch nicht!“, damit die Menschen nicht weglaufen. Mose
verhüllt aus Angst sein Gesicht vor dem brennenden Dornbusch, die Israelis
schicken Mose vor zu Gott, weil sie Gottes Reden nicht ertragen können und zu
sterben fürchten, und Gott sagt es selbst, wie immer knapp und klar: „Mein Angesicht
kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Gen. 33,
20).
Wenn es so ist, kann Gott den
Menschen nicht vom Baum des Lebens essen lassen. Denn was soll dieser Baum
anderes sein als ein Symbol für die Macht Gottes, den schon gestorbenen
Menschen neu bei sich zu erschaffen, und das kann dem Menschen nicht gut tun,
wenn er die Gegenwart Gottes nicht erträgt.
Nun ist es aber rätselhaft,
daß Gott beide Bäume selbst in den Garten Eden gepflanzt hat. Für wen wohl?
Für sich selbst sicher nicht, den er hat ja schon das ewige Leben und die Erkenntnis
von Gut und Böse? Für die Katzen und Känguruhs? Wohl kaum. Also für den
Menschen. Und das heißt, Gott macht es dem Menschen möglich, sich die
Erkenntnis von Gut und Böse anzueignen, und gleichzeitig sagt er ihnen, sie
sollen davon keinen Gebrauch machen, da sie sonst sterben werden. Trotzdem
entscheiden sie sich für diese Option und sterben - nicht im Standardsinn des Wortes, denn sie
leben ja noch lange, aber doch offensichtlich in dem Sinn, daß sie jetzt
wissen, daß sie sterben werden, was sie vorher nicht wußten, und was die
Katzen und Känguruhs heute noch nicht wissen, weswegen sie auch nicht in dem
Sinne sterben, wie wir und Martin Heidegger es tun. Und außerdem sterben sie,
weil Gott ihnen den Baum des Lebens verweigert, aus den geschilderten
Gründen.
Hätte Gott sich und uns dies
nicht alles ersparen können? Gewiß, aber wenn er Geschöpfe nach seinem Bild
machen wollte, d.h. Geschöpfe, die so viel Erkenntnis und Freiheit haben, wie
geschaffene Wesen sie nur haben können, dann haben sie eben auch die Freiheit,
sich mehr Erkenntnis anzueignen, als sie vertragen können, und von dieser
Freiheit wurde Gebrauch gemacht und wir haben die Konsequenzen zu tragen. Das
Bewußtsein der eigenen Schwäche, des Nicht-allmächtig-Seins, erzeugt nicht nur
Angst, sonderrn immer wieder verzweifelte Versuche, diese Schwäche zu
überwinden, Versuche, die jedoch das Übel steigern, nicht vermindern. Kain
ermordet Abel aus dem Gefühl der Wertlosigkeit heraus, und aus dem gleichen
Gefühl heraus wird der Turmbau zu Babel begonnen.
Dieser Zustand ist es, der
nach Erlösung verlangt. Und wie soll diese Erlösung aussehen? Wir könnten uns
Platons Fahrplan zum Heil anschauen, den der Upanischaden oder den Buddhas,
aber dort liegen andere Diagnosen vor und deswegen auch andere Rezepte.
Unsere eigene säkulare
Erlösungstheorie kann sich auf Heinrich von Kleist berufen. In der Abhandlung
„Über das Marionettentheater“ erzählt er viele Beispiele davon, wie der Gewinn
von Bewußtsein zum Verlust von Grazie und Anmut führt. Auch für ihn ist der
Archetyp dieser Geschichten die Erzählung von den Menschen im Garten Eden.
„Solche Mißgriffe ...“ schreibt er „sind unvermeidlich, seitdem wir vom Baum
der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist versiegelt und der Cherub
hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es
vielleicht von hinten wieder offen ist“ (1966, S.804). Anders gesagt: „so
findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen
ist, die Grazie wieder ein; so daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen
menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder
ein unendliches Bewußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott“ (a.a.O.
S. 807).
Jedoch: nachdem wir mit
unserer Erkenntnis auf dem Weg durch das Unendliche ein gutes Stück weitergekommen
sind, merken wir, daß wir nicht Anmut und Grazie näherkamen, sondern der
Selbstvernichtung. Kleists Traum ist ein Albtraum, aus dem wir zwar erwacht
sind, aber es hat uns nichts genützt, da wir der Situation nach dem Erwachen
genauso hilflos gegenüberstehen wie davor.
Es ist logisch unmöglich, daß
wir, die Nicht-Götter, Gott sind. So lange unsere Augen nicht geklärt waren,
machte uns dies nichts aus, aber nachdem wir nun um Gut und Böse wissen, können
wir nur dadurch erlöst werden, daß Gott wird wie wir, ohne aufzuhören, Gott zu
sein. Es ist der christliche Gedanke der Erlösung, daß Gott sich in Jesus
vollkommen sichtbar macht, und durch dessen Menschlichkeit auf eine Art und
Weise, die dem Menschen nicht das Leben kostet, sondern das Leben bringt. Er
jetzt kann Gott dem Menschen „Leben in Weltzeit“ geben, denn erst jetzt kann
der Mensch durch Jesus Gott begegnen. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich erkannt habt,
werdet ihr auch meinen Vater erkennen ... Wer mich gesehen hat, hat den Vater
gesehen“ (Joh. 14). Und das Pfingstereignis zeigt uns noch einmal, dass wir uns
diese Erlösung nicht erarbeiten können, sondern dass sie uns geschenkt wird –
erarbeiten müssen wir uns sie trotzdem.
Jesus
ist nicht einem rachsüchtigen Gott geopfert worden, sondern er starb, weil er
nicht davonlaufen wollte vor Menschen, die glaubten, ihr eigenes Elend durch
Gewaltanwendung überwinden zu können. Und ebensowenig wollte er Gewalt mit
Gewalt beantworten.
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Literaturhinweise:
Die
fünf Bücher der Weisung (1968) Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz
Rosenzweig. Köln und Olten: Jakob Hegner
Kleist,
Heinrich v. (1966) Werke in einem Band. München: Carl Hanser
Steck,
O.H. (1982) Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. München: Kaiser
Der Verfasser war Klinischer
Psychologe am Department Psychologie der Universität München.