Die Geschichte von den drei Kränkungen

 

 

Christoph Kraiker

 

 

 

Zusammenfassung: Sigmund Freuds „Geschichte von den drei Kränkungen“ wird als ein Komplex indirekter und systematisch irreführender Suggestionen betrachtet. Neben Sugge­stionen durch logische Implikation werden Anspielungen auf exemplarische Ge­schichten (Beispiel Kopernikanische Revolution) und unbeabsichtigte Metaphern analy­siert. Es wird gezeigt, dass diese Geschichte den Zweck hat, die Psychoanalyse gegen Kritik zu immunisie­ren und Freud selbst als großen Martyrer und Geisteshelden darzu­stellen.

 

 

Summary: Sigmund Freud's story of the "three blows" is looked upon as a complex of indirect and systematically misleading suggestions. Apart from suggestion by logical implication we find suggestion by "allusion to standard stories" (in this case allusion to the Copernican Re­volution) and by unintended metaphors. The true purpose of the story is to immunize psycho­analysis against criticism and to present Freud as a great martyr and intellectual hero.

 

 

Für Psychoanalytiker sind Suggestionen etwas Unabstinentes, also Unanständiges. Sie tun es aber trotzdem, und so finden wir z.B. in Freuds "Geschichte von den drei Krän­kungen" ein wunderbares Exemplar hypnohistorischer Manipulation. Es lohnt sich, ge­nauer zu untersu­chen, was er in dieser Geschichte suggeriert, und wie er das macht, da man daraus eine Menge lernen kann.

 

Die Geschichte existiert in wenigstens drei Versionen, zwei aus dem Jahre 1917 und eine aus dem Jahr 1924, alle in den Gesammelten Werken. Hier die kürzeste Version aus dem 18. Ka­pitel der "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" (GW 11, 1917, S. 294-95).

           

"Mit dieser Hervorhebung des Unbewussten im Seelenleben haben wir aber die böse­sten Geister der Kritik gegen die Psychoanalyse aufgerufen. Wundern Sie sich darüber nicht und glauben Sie auch nicht, daß der Widerstand gegen uns nur an der begreiflichen Schwie­rigkeit des Unbewussten oder an der relativen Unzugänglichkeit der Erfahrung gelegen ist, die es erweisen. Ich meine, er kommt von tiefer her. Zwei große Kränkun­gen ihrer naiven Eigen­liebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissen­schaft erdulden müssen. Die er­ste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalles ist, sondern ein winzi­ges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellba­ren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches ver­kündet hatte. Die zweite dann, als die biolo­gische Forschung das angebliche Schöpfungsvor­recht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animali­schen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das hef­tigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die men­schliche Grössensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgli­che Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht."

 

Man kann eine solche Geschichte wie einen Traum behandeln und versuchen, den la­tenten Traumgedanken hinter der Oberfläche des manifesten Trauminhaltes zu finden. Aber wir können mit dem Träumer (Freud) nicht reden, und deshalb wollen wir lieber diese Geschichte als einen Komplex von Suggestionen betrachten (was auf diesem Kongress ohnehin passender ist), und hinter den manifesten Inhalten die latenten (d.h. indirekten) Suggestionen entdecken.

 

Der manifeste Inhalt ist offensichtlich, und ich möchte ihn nur knapp zusammenfassen: Der Widerstand gegen die Psychoanalyse beruht nicht auf intellektuellen Gründen, son­dern auf emotionalen Problemen. Sie hat gezeigt, dass der Mensch sich weder wirklich kennt noch Herr über sich selbst ist. Der Mensch verträgt das nicht und lehnt es daher ab. Ähnliches ist schon früher passiert und passiert jetzt wieder.

 

So weit, so gut. Schauen wir uns jetzt die indirekten Suggestionen an.

 

Erstens: Intellektuell, d.h. wissenschaftlich, ist mit der Psychoanalyse alles in Ordnung.

 

Zweitens: Es gibt daher keine ernstzunehmenden Einwände gegen die Psychoanalyse. Ihrer Kritiker sind nicht nur - wie gezeigt - emotional gestört, sondern auch geistige Krüppel wie jene, die gegen Kopernikus und Darwin gekämpft haben.

 

Drittens: Ihr Kampf wird vergeblich sein, sie werden scheitern wie die Feinde von Koperni­kus und Darwin gescheitert sind. Freud verwendet hier ein Standardverfahren zur Ermutigung von Anhängern: In schwierigen Zeiten beschwört man die Helden den Vergangenheit und schöpft Zuversicht aus ihrem erfolgreichen Kampf gegen die Mächte der Finsternis.

 

Viertens: Es gab und gibt in der Tat einen exzessiven Widerstand gegen die Psycho­analyse.

 

Dazu lässt sich folgendes sagen: Im Jahr 1917 war Freud bereits eine internationale Berühmt­heit. Schon die "Studien über Hysterie" (veröffentlicht um 1885) waren ein großer Erfolg und Gegenstand intensiver Diskussionen in den Wiener Caféhäusern (und anderswo). Sein Werk über die Traumdeutung (um 1900) wurde mindestens dreißigmal besprochen, oft positiv, zum Teil auch begeistert. 1917 war Freud ein in wissen­schaftlichen Werken oft zitierter Mann. Gewiss gab es genug Kritiker, auch polemische und bösartige, aber diese Kritik be­wegte sich im Rahmen des damals üblichen (heute ist man etwas verbindlicher geworden) und wird jedenfalls durch die zum Teil enthusiasti­sche Rezeption Freudscher Gedanken mehr als kompensiert. Die Psychoanalyse war und ist eine der erfolgreichsten intellektuellen Be­wegungen dieses Jahrhunderts, und trotzdem behauptete Freud immer wieder, und behaupten seine Anhänger bis zum heu­tigen Tag, dass sie auf die übelste Weise abgelehnt wurde und wird.

 

Lassen Sie mich zwei Deutungen dieser merkwürdigen Diskrepanz versuchen: Zunächst könnte es so sein, dass die Psychoanalyse sofortigen und bedingungslosen Glauben erfor­dert; dann wäre jede Kritik, jeder Widerstand unakzeptabel und, wie ein Symptom, erklärungsbe­dürftig (die Erklärung kennen wir ja nun).

 

Eine andere Deutung bezieht sich auf das Bild, das Freud von sich selbst hat. Er sieht sich als einsamer Kämpfer für die Wahrheit in einem Meer von Ignoranz und Borniertheit. Es wurde schon oft darauf hingewiesen, dass Freud sich offensichtlich stark mit Moses identifiziert, und es ist klar: Um ein Kämpfer sein zu können, muss es Widerstand geben, und wenn man ein Martyrer sein will, benötigt man Feinde von überwältigender Stärke. Wenn es aber so viel Widerstand und so viele Feinde nicht gibt, muss man sie erfinden.

 

Kehren wir zurück zu den indirekten Suggestionen unserer Geschichte. Fünftens: Die Psy­choanalyse ist in der Tat eine Kränkung der menschlichen Grössensucht.

 

Wir können uns fragen: stimmt das? Zunächst stellen wir fest, dass die Ansicht von Nicht-Psychoanalytiker kaum geteilt wurde. Hören wir zum Beispiel Karl Kraus, jahrzehnte­lang zusammen mit Freud in Wien lebend und, wie dieser, ein Meister und Wächter der deut­schen Sprache. Schon 1913 hatte er in der Zeitschrift „Die Fackel“ ge­schrieben, die Psycho­analyse sei „die stärkere Religion, die selig im Zweifel macht. In­dem die Schwäche nicht zur Demut, sondern zur Frechheit bekehrt wird, geht es ihr schon auf Erden gut. Die neue Lehre ist über jeden Glauben erhaben“ (Mai 1913, S. 22).

 

Oder nehmen wir Robert Musil, ein Landsmann und Zeitgenosse von Freud, und einer der klarsichtigsten Köpfe unseres Jahrhunderts. Er schreibt in seinem monumentalen Roman  „Der Mann ohne Eigenschaften“ (vielleicht so um 1930 herum):  „Als nämlich die Psychoanalyse (weil eine Zeit, die sich nirgends auf geistige Tiefe einlässt, mit Neu­gierde hört, daß sie eine Tiefenpsychologie habe) anfing zur Tagesphilosophie zu wer­den und die bürgerliche Aben­teuerlosigkeit unterbrach ...“ (1978, S. 1225).

 

Das alles beweist zwar nichts, aber - nüchtern betrachtet - gibt es einfach keine Anhalt­punkte für die Behauptung, die Psychoanalyse habe das menschliche Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Allem vergangenen und gegenwärtigen Anschein nach hat sie im Ge­genteil den Menschen für sich selbst viel interessanter gemacht als er vorher war.

 

Indirekte Suggestion Nr. 6 (und damit kommen wir zur zentralen Aussage unserer Ge­schichte): Ich, Sigmund Freud, bin der Größte. Ich bin der dritte in einer Reihe herausragen­der Männer, und aufgrund des bekannten Prinzips „je größer die Kränkung, desto größer der Kränker“ nehme ich die Spitzenposition ein, denn „die dritte und emp­findlichste Kränkung aber soll die menschliche Grössensucht durch die heutige psycho­logische Forschung erfahren“ - das heißt, durch mich.

 

Diese Behauptung wird durch eine andere Art indirekter Suggestion in unserer Ge­schichte verstärkt. Was wir bisher hatten, waren Suggestionen durch einfache logische Implikation. Was wir darüber hinaus vorfinden, könnte man Anspielungen auf exempla­rische Geschichten nennen. Eine exemplarische Geschichte ist den Zuhörern oder Le­sern mehr oder weniger be­kannt, und sie enthält eine Moral, oder scheint eine zu ent­halten. Exemplarische Geschichten können Märchen sein, oder Sagen, oder Mythen, oder Gleichnisse, oder auch Berichte von tatsächlichen Begebenheiten. Eine der exem­plarischen Geschichten, auf die Freud hier an­spielt, ist die Geschichte von der so ge­nannten Kopernikanischen Revolution. Das ist natürlich eine wahre Geschichte, aber, wie es oft vorkommt, sowohl dem Publikum wie dem auf sie Anspielenden nur unzurei­chend bekannt. Worauf angespielt wird ist eine auf systematische Weise verzerrte und entstellte Geschichte. Was Freud mit ihr sagen will, ist etwa folgendes:

 

Kopernikus war ein brillanter Wissenschaftler, dem wir Epoche machende Entdeckungen ver­danken. Er hatte ein paar unbedeutende Vorläufer, aber die sind praktisch vergessen. Er wurde wegen seiner Entdeckungen durch die stumpfsinnigen und bösartigen Kräfte der Reli­gion verfolgt, insbesondere durch die Inquisition, aber er hielt stand, obwohl bedroht mit Folter und Hinrichtung. Und ich, Sigmund Freud, bin wie er, nur noch bril­lanter und noch standhafter.

 

Nun ist die Geschichte von Kopernikus eine Schlüsselgeschichte für das moderne west­liche Bewusstsein, und ich kann der Versuchung nicht widerstehen, ein paar Kommen­tare dazu ab­zugeben. Was Freud als typischer Repräsentant diese Bewusstseins im Sinn hatte, scheint mir die Verdichtung von drei verschiedenen Geschichten zu sein, nämlich der von Kopernikus, der von Giordano Bruno, und der von Galileo Galilei. Von diesen dreien war Galilei der ein­zige, der offiziell wegen seiner wissenschaftlichen Ansichten kirchlicherseits verfolgt wurde, obwohl Lerner und Gosselin (Scientific American 1986) die Ansicht vertreten, dass in Wirk­lichkeit politische Spannungen und seine vermutete Assoziation mit Brunos Häresien, aber nicht seine Astronomie dafür verantwortlich wa­ren. Bruno war es auch, der tatsächlich nach einem Prozess unter Vorsitz von Kardinal Bellarmino verbrannt wurde, und zwar wegen seiner häretischen Theologie, nicht we­gen seiner abstrusen wissenschaftlichen Ansichten. Ich zitiere noch einmal Lerner und Gosselin: Brunos Hauptwerk (La cena de la ceneri) „ist ein Kompen­dium von Unsinn - eine desorganisierte Demonstration primitiver Irrtümer, verbunden durch unverständli­che Textstücke“ (S.116).

 

Kopernikus selbst hatte keinerlei Schwierigkeiten. Er lehrte sein System viele Jahre lang, wurde sehr schnell in ganz Europa bekannt, und als man ihn endlich zu einer Veröffentli­chung überreden konnte (als „De revolutionibus orbium celestium“), bat er Papst Paul III um Erlaubnis, das Werk ihm widmen zu dürfen. Diese Erlaubnis wurde erteilt, und es wurde ein Vorwort des evangelischen Theologen Andreas Osiander hinzugefügt, um die Anhänger Luthers zu beruhigen. Als das Buch schließlich im Jahr 1543 erschien, war Kopernikus unglückli­cherweise schon  (eines natürlichen Todes) ge­storben.

 

Worin bestand eigentlich seine große Leistung? Man kann es so zusammenfassen: Sowohl das geozentrische System von Ptolemäus wie das heliozentrische System von Aristarch von Samos (und noch ein paar andere) waren im Mittelalter bekannt und Ge­genstand ausführli­cher Diskussionen. Eine Zusammenfassung dieser Diskussionen fin­det man in dem Buch „Livre du Ciel et du Monde“ von Bischof Nicolas d'Orêsme aus dem Jahr 1377. Seine Ana­lyse der involvierten Probleme war die gründlichste und ge­naueste seit der Zeit der griechi­schen Astronomie. Eines der von ihm diskutierten theo­logischen Argumente ist der auf Josua 10, 12-13 sich stützende Einwand gegen das he­liozentrische Modell. Es heißt dort:

 

„Damals redete Josua mit dem HERRN an dem Tage, da der HERR die Amoriter vor den Kinder Israel dahingab, und er sprach in Gegenwart Israels: Sonne, steh still zu Gi­beon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte. Ist dies nicht geschrieben im Buch des Redlichen? So blieb die Sonne stehen mitten am Himmel und beeilte sich nicht un­terzugehen fast einen ganzen Tag“.

 

Der Bischof wies darauf hin, dass diese Sprechweise das alltägliche Erleben widerspie­gele, aber nichts über das zugrunde liegende System aussage, da der Herr in seiner All­macht diesen Effekt auch im heliozentrischen System hätte bewirken können. Das war ein nahe liegendes und vernünftiges Argument, das später von Galilei angesichts des gleichen Einwandes wie­derholt wurde.

 

Obwohl also beide Systeme bekannt waren, gab es in der Spätantike und im  Mittelalter nur ein vollständiges Modell der Planetenbewegungen, und zwar das ptolemäische. Es war das einzige, das relativ brauchbare Vorhersagen ermöglichte, da ein entsprechendes Modell für das heliozentrische Modell nicht existierte. Und genau das wurde von Ko­pernikus entwickelt: ein vollständiges Modell aller Planetenbewegungen mit der Sonne (mehr oder weniger) im Zentrum. Da er von falschen Annahmen bezüglich der relativen Position der Sonne und der Gestalt der Umlaufbahnen ausging, war sein System physi­kalisch mangelhaft und geome­trisch nicht weniger kompliziert als das alte, mit ver­gleichbaren Zyklen und Epizyklen, aber phänomenologisch war es ein großer Fort­schritt und erlaubte viel genauere Berechnungen und Vorhersagen als das ptolemäische. Dies veranlasste Papst Gregor XIII im Jahr 1582 zu einer Reform des Julianischen Ka­lenders auf der Basis des Kopernikanischen Weltmodells, und diesen Gregorianischen Kalender benutzen die meisten von uns noch heute.

 

Knapp gesagt war es so: Es gab zwar Kritiker von Kopernikus, aber er konnte sein Sy­stem ohne Beeinträchtigungen lehren und verbreiten, und war dabei äußerst erfolgreich. Die Kritik offerierte theologische, physikalische und methodische Einwände, aber ich habe niemals von irgendjemandem gehört oder gelesen, der ihm vorgeworfen hätte, das menschliche Selbst­wertgefühl gekränkt zu haben. Im Gegenteil: in diesem Zeitalter, dem Zeitalter von Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raphael, Bramante und eben Ko­pernikus wuchsen das Selbstver­trauen und die Arroganz der Menschen so schnell, dass Arthur Köstler später zu dem Bonmot veranlasst wurde, man habe damals den Eindruck gewinnen können, es sei eine neue Gattung intelligenter Lebewesen auf der Erde er­schienen.

 

Wir können also schlussfolgern, dass die von Freud unterstelle Kopernikanische Helden­story in allen wesentlichen Gesichtspunkten systematisch verzerrt ist. Diese Verzerrung ist allerdings nicht nur für Freud typisch, sondern für die westliche Aufklä­rungspropaganda insgesamt, die sich durch ständige Wiederholung dieser Fabel ein für alle­mal gegen moralische Einwände immunisieren konnte. Allenfalls akzeptabel ist ein wenig Technologiekritik, aber wer be­stimmte wissenschaftliche Forschung als in sich unmoralisch und böse bezeichnet, gilt als der wahre Untermensch unserer Zivilisation. Giordano Bruno verwandelte sich auf dem Scheiter­haufen der Inquisition von einem aufgeblasenen Schwatz­kopf in eine Leuchte des Abendlan­des, und in diesem Glanz sonnt sich noch heute jeder Em­bryonenforscher.

 

Kehren wir zu Freud zurück und schauen wir uns eine andere seiner Geschichten an, die von Moses und der Entstehung der jüdischen Religion. Freuds zentrale Hypothese ist folgende: Moses gehörte überhaupt nicht zum Volk Israel, sondern war ein Ägypter. Er war  Anhänger des solaren Monotheismus, einer von dem Pharao Amenophis IV einge­führten Religion. Amenophis nannte sich später nach dem Namen seiner Gottes Aton selbst Echnaton (etwa: Aton wohlgefällig). Echnaton verfolgte die Priester des alten Kultes, schloss ihre Tempel und zerstörte ihre Inschriften. Nach seinem Tod gewann die alte Ordnung jedoch wieder die Oberhand und verfolgte nun ihrerseits die Anhänger des Atonkultes, unter anderen eben Mo­ses, der zum Volk Israels floh, es aus Ägypten führte und ihm eine neue Religion gab, näm­lich eine Variante seiner eigenen. Freud behauptet nun nicht, dass er die Korrektheit dieser verwegenen Annahme bewiesen habe, aber er betrachtet sie doch als eine interessante und vermutlich wahre Hypothese. Und wir fra­gen uns: warum möchte er, dass es sich so verhalten hat, wie er meint? Und die einzige Erklärung, die mir einfällt, ist folgende: wenn diese Ge­schichte wahr wäre, würde sie beweisen, dass noch nicht einmal Moses ein origineller Denker war (womit die Anzahl der mit Freud vergleichbaren wieder etwas geschrumpft wäre).

 

Wenden wir uns wieder den drei Kränkungen zu. Was wir bisher gefunden haben waren indi­rekte Suggestionen durch logische Implikation und durch Anspielung auf exemplari­sche Geschich­ten. Ein dritter Typ ist die unbeabsichtigte Metapher. Unbeabsichtigte Metaphern sind so et­was wie sprachliche Fehlleistungen: man äußert etwas, was man eigentlich nicht äu­ßern (d.h. offenbaren) wollte. Die psychoanalytische Deutungskunst nimmt ja nicht nur die Metaphorik der Symptome ernst, sondern auch den metaphori­schen Gehalt von Redewendun­gen. Und da muss man eben darauf deuten, dass eine Kränkung etwas ist, was krank macht. Was Freud also mit seiner Geschichte (wenn auch unabsichtlich) sagt, ist dies: es gab drei Entdeckungen, die den Menschen krank gemacht haben, und die Psychoanalyse davon die schlimmste. Wenn das so ist, wenn die in Freuds Augen größten Leistungen des menschlichen Geistes diesen Effekt haben, dann ist seine Botschaft eine modernisierte Version von Johan­nes 32,8:

 

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch umbringen"

 

 

Keywords: psychoanalysis, indirect suggestion, Copernicus, unintended metaphors, story of the three blows

 

 

 

 

Literaturhinweise:

 

Crombie, A.C. (1977) Von Augustinus bis Galilei (Engl.:Augustine to Galileo). Mün­chen: DTV

Köstler, Arthur (1959) The sleepwalkers. London: Penguin Books

Lerner, L. S. & Gosselin, E.A. (1986) Galileo and the specter of Bruno. Scientific Ame­rican 255, Nr. 5, pp 116-123

Musil, Robert (1978) Der Mann ohne Eigenschaften. Bd.2 "Aus dem Nachlaß". Hg.v. A.Fris‚. Hamburg: Rowohlt

Santillana, Giorgio (1961) The crime of Galileo. London: Mercury books

 

 

 

 

Anschrift des Verfassers:

 

Dr. Christoph Kraiker

Institut für Psychologie

Leopoldstr. 13

80802 München

 

Vom Verfasser übersetzter und überarbeiteter Vortrag, gehalten unter dem Titel "Stories on Psycho­analysis" auf der Joint Conference on Ericksonian Hypnosis and Psychotherapy 1992 in Jerusalem. Erschienen unter dem Titel: „The story of the three blows“ in: Hypnos XXI, No 3, 1994, pp 176-180.